Seuchen und Epidemien in Hagen
Das rasche Bevölkerungswachstum im 18. Jahrhundert sowie gelegentlich auftretende Seuchen, wie z.B. die besonders schwere Pestepidemie von 1636, taten ein Übriges, um die mitten in den Städten gelegenen „Totenhöfe“ an den Kirchen in kurzer Zeit mit Leichen zu füllen.
Über 2.000 ‚Pesttote’ aus dem Kirchspiel Hagen sollen damals in einem als „Bauernkuhle“ bezeichneten Massengrab an der Johanniskirche bestattet worden sein.
Die ungenügenden hygienischen Verhältnisse und die beengte Wohnsituation führten nicht nur in den prosperierenden europäischen Bevölkerungszentren, z.B. in Hamburg, Paris, Berlin, Wien und London, seit dem 18. Jahrhundert und noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum Ausbruch von schweren Seuchen, Pandemien und Epidemien, wie die weltweit grassierende ‚Spanische Grippe’ von 1918-1920 bezeugt.
Seit dem 17. Jahrhundert waren in Europa u.a. der Pest, Cholera, Grippe, Ruhr und dem Fleckfieber Millionen Menschen zum Opfer gefallen, mehr als in den ersten großen Pestepidemien des Spätmittelalters um 1350.
In Preußen erkrankten allein während der beiden großen Epidemien von 1831/32 und 1848/49 Hunderttausende an der Cholera, mehr als 10.000 Menschen starben daraufhin trotz staatlicher Gegenmaßnahmen, die u.a. in der Stadt Hagen ergriffen wurden.
Auch in Hagen förderten die damaligen Wohnverhältnisse und Umweltbedingungen bis in das 19. Jahrhundert die schnelle Ausbreitung von ansteckenden Krankheiten.
Wie sich Seuchen und Epidemien auf die Bevölkerung im Bereich des früheren Gerichts Hagen und im Gebiet der Grafschaft Limburg ausgewirkt haben, ist bisher noch nicht umfassend untersucht worden, im Allgemeinen ist auch die Quellenüberlieferung dürftig.
Außer mehreren Pestepidemien, die allein im 17. Jahrhundert in der gesamten Region Tausende von Menschenleben forderten, ist für Hagen aus der Zeit um 1800 besonders eine infektiöse Epidemie belegt.
Im Juni 1795, gleichzeitig mit der innenpolitischen Krise, kam es in der Stadt zum Ausbruch einer mehrere Monate anhaltenden Ruhr-Epidemie.
Die Infektionen durch Bakterien erreichten im August und September des Jahres ihren Höhepunkt und fanden erst Anfang 1796 ein Ende.
In diesem Zeitraum starben über 120 Personen in Hagen.
Das Krankheitsbild der Ruhr ist durch schweren Durchfall und Fieber gekennzeichnet; beide Begleiterscheinungen schwächen die körperliche Konstitution bis zum Tod.
Über 120 Tode durch Ruhr-Epidemie 1795
Aus Sicht von Vertretern der Kommune und Regierung waren verschiedene Ursachen für den Ausbruch der Ruhr in Hagen verantwortlich.
Der Kriegs- und Steuerrat Eversmann führte die Epidemie auf das fehlende Straßenpflaster in der Stadt zurück.
Auf den z.T. völlig verwahrlosten Zustand und unzureichenden Ausbau von Straßen und Wegen in und um Hagen hatten Eversmann und die dortigen Unternehmer die Regierung schon mehrfach aufmerksam gemacht.
Da die Situation sich nachteilig auf den Transport von Handelsgütern, Erzeugnissen und Rohstoffen auswirkte, forderten die Gewerbetreibenden von der preußischen Regierung seit vielen Jahrzehnten eine Abhilfe.
Nach Regenfällen und dem regelmäßig auftretenden Hochwasser von Volme und Ennepe, aber auch durch die langjährige intensive Nutzung, ohne dass größere Reparaturarbeiten vorgenommen wurden, waren die durch Hagen führenden Verkehrswege wegen der Verschlammung und großen Verschmutzung kaum befahrbar, ein Fortkommen stellenweise sogar unmöglich.
Erst zwischen 1788 und 1794 wurde die Enneperstraße von Schwelm bis nach Herdecke zu einer befestigten Chaussee ausgebaut.
Sie war eine der ersten in Westfalen und sollte der Förderung des Warenverkehrs und der Versorgung der Gewerbebetriebe dienen.
Eversmanns Ausführungen über die vermeintlichen Gründe für den Ausbruch der Epidemie in Hagen wurden hingegen von der klevisch-märkischen Regierungsstellen und dem Ministerium angezweifelt und schließlich verworfen.
Maßnahmen der Kommune und Regierung
Aus Sicht des märkischen Landphysikus Professor Dr. Hoffmann, der im Auftrag der preußischen Regierung gemeinsam mit dem Hagener Arzt Dr. Emminghaus die möglichen Ursachen der Epidemie untersuchte, war vielmehr die vorherrschende Mangelernährung in der Bevölkerung für den Ausbruch der Ruhr verantwortlich.
Der Bericht des Landphysikus ermöglicht einen interessanten Einblick in die Zusammensetzung in Hagen lebenden Bevölkerung und ihre Lebenssituation an der Schwelle zum 19. Jahrhundert.
Hoffmann stellte fest, dass der ganz überwiegende Teil der damals rund 1.750 Personen zählenden Einwohnern des engeren Stadtbezirks als Fabrikarbeiter, Handwerker, Wollenweber, Tagelöhner und Fuhrleute tätig war.
Sie lebten durchweg in ärmlichen Verhältnissen unter denkbar schlechten Wohnbedingungen.
Ihr täglicher Verdienst betrug kaum 20 Stüber, wovon sie oft noch Frau und „viele Kinder“ zu ernähren hatten.
Mitte Oktober 1795, also auch noch nach der Ernte, habe ein kleines Roggenbrot in Hagen aber immer noch 27 Stüber gekostet – also mehr als der Tagesverdienst.
Bei diesen Nahrungsmittelpreisen, so der Landphysikus, musste der „Dürftige und Unvermögende“ aber Mangel an Brot leiden und sich der „größte Teil der Einwohner“, um sein Leben zu erhalten, täglich von etwas saurer Milch und mit dieser Milch zubereitetem Salat ernähren.
Überdies seien von den Menschen aus reiner Not noch viele „unreife Erdäpfel“ (Kartoffeln) gegessen worden.
In Folge der unzureichenden Ernährung und des Mangels an gesunden Nahrungsmitteln sowie durch den „Kummer der Menschen“, Hoffmann umschrieb damit die psychischen Auswirkungen der Krise, habe sich im „ersten Magen und in den Körpersäften“ ein „fauler Stoff“ gebildet, der bei „zunehmender Stärke und geringster Gelegenheit“ den Ausbruch der Ruhr und des „Faulfiebers“ bewirkt habe.
Hoffmanns Bericht, der vor allem auch die Auswirkungen der Missernten und Hungerkrisen, die um 1795 nicht nur Preußen ergriffen hatten, deutlich erkennen lässt, legte die schlechte soziale Situation und die ungünstigen Lebensverhältnisse des überwiegenden Teils der Stadtbevölkerung in Hagen offen.
Schlamm, Dreck und Unrat bestimmten das Stadtbild
Der lutherische Prediger Johann Friedrich Dahlenkamp hingegen sah die Ursache der Epidemie weniger in der von ihm nicht bestrittenen schlechten Ernährungslage der Bevölkerung, sondern vor allem in den katastrophalen hygienischen Verhältnissen, die damals offenbar das Erscheinungsbild der Stadt Hagen kennzeichneten.
Dahlenkamps Bericht enthält dann auch eine bemerkenswerte Schilderung vom Zustand der Stadt Hagen am Ende des 18. Jahrhunderts, die sich darin weniger romantisch zeigte, als es der Blick des Landschaftsmalers aus der Ferne sowie die Berichte des privilegierten Reisenden nur wenige Jahre später vermittelten.
Der Prediger beschrieb die Situation im Bereich des Unterbergs, das der Kirche am Markt und der ‚Springe’ gegenüber liegende und seit der Mitte des 18. Jahrhunderts dicht besiedelte Stadtviertel auf dem rechten Ufer der Volme, wie folgt: „Unter dem Berge hierselbst sind überall, weil das Wasser keinen Abfluß hat, große faulende und stinkende Pfützen, die um so viel schlimmer werden, da die dort wohnenden Bierbrauer und Brandtweinbrenner das gegohrne Wasser in dieselben schütten, die vielen Fellbereiter [Gerber] den faulenden Abfall von den Fellen [Häuten] dorthin werfen, und die Juden das Blut und den Unrath des geschlachteten Viehes hinein lassen.“ Aus diesem und ähnlich lautenden Berichten drängt sich der Eindruck auf, dass die Volme lange Zeit einer gesundheitsschädlichen Kloake glich, die zur Entsorgung von Abfällen diente.
Aber auch in vielen anderen Wohnvierteln der Stadt Hagen, wie z.B. im Umfeld der Kirche am Markt, sah es nach der Schilderung Dahlenkamps in dieser Hinsicht nicht besser aus.
Da selbst die wichtigsten Durchgangswege, dazu zählte besonders die mitten durch die Stadt führende alte Landstraße zwischen dem Rhein-Main-Gebiet und Westfalen, die dem heutigen Verlauf von Elberfelder-, Mittel- und Frankfurter Straße in südlicher Richtung durch das Volmetal folgte, nicht gepflastert waren, entstanden durch den ständigen starken Wagenverkehr zahlreiche Vertiefungen, so dass Fußgängern ein Überqueren der Straße fast unmöglich war.
Um aber dennoch auf die andere Straßenseite gelangen zu können, hatten die Bewohner an verschiedenen Stellen quer über die Straße kleine Erddämme und Stege angelegt.
Diese verhinderten als „Staudämme“ nun aber endgültig jeglichen Abfluss, so dass, wie Dahlenkamp eindrucksvoll beschreibt, „aller Ausfluß aus den Häusern, Kloaken und Ställen in den Höfen oder Straßen stehen bleibt und einen unaufhörlichen Gestank erweckt.“ In einem ergänzenden Bericht erklärte der lutherische Prediger unter Bezugnahme auf diese wohl besonders in den Bereich „unter dem Berge“ herrschenden Zustände, dass dieses Gebiet die „Pflanzschule“ der Infektionskrankheiten Ruhr und des „hitzigen Fiebers“ für die Stadt bleiben werde, wenn man nicht bald Abhilfe schaffe.
Wie die weiteren Ausführungen Dahlenkamps zu den mutmaßlichen Ursachen der 1795 ausgebrochenen Ruhr-Epidemie in Hagen bezeugen, war er ein Anhänger der so genannten und damals gängigen Miasma-Lehre.
Nach dieser Ansicht hatten die durch Gärung und Fäulnis von pflanzlicher und tierischer Materie wie auch in stehenden Pfützen und Sümpfen erzeugten und durch den Wind verbreiteten „bösen Dünste“ und „Luftfäulen“ die Seuche hervorgerufen.
Die „Seuchen-Plage“ in der Stadt Hagen werde aber, so erklärte Dahlenkamp zum Schluss seiner Ausführungen prophetisch, nicht eher aufhören, bis die „Sümpfe“ trocken gelegt und die Straßen gepflastert seien.
Gegen Ende der französischen Herrschaft in Hagen kam es 1812/13 zu einer Typhus- und Ruhr-Epidemie, die ihren Ausgang im städtischen Arresthaus am „Unterberg“ genommen hatte.
Nur mit Mühe gelang es der Stadtverwaltung und Regierung, die Ausbreitung auf das Stadtgebiet zu verhindern.
Die im überfüllten Gefängnis siechenden Menschen wurden zeitweise isoliert, um sie sterben zu lassen.
Dutzende Personen, darunter auch Wächter und Regierungsbeamte, fanden bis in den Sommer 1813 in Hagen den Tod.
Aufbau einer urbanen Infrastruktur
Die mangelhaften hygienischen Verhältnisse und der Ausbruch von Epidemien gaben in den meisten Großstädten zu Beginn des 19. Jahrhunderts den Anstoß zu einer umfassenden Sanierung, den Ausbau von festen Straßen und die Einrichtung einer Kanalisation sowie kontrollierter Wasserversorgung.
Doch in Hagen, das bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ein weitgehend kleinstädtisches Erscheinungsbild behielt, sollten noch zwei Jahrzehnte vergehen, bis im Jahr 1816 die erste Straße, die damalige Iserlohner Straße (heute: Märkischer Ring), gepflastert wurde.
Erst allmählich bildete sich in Hagen, wie auch in den benachbarten Gemeinden Haspe und Limburg, eine urbane Infrastruktur.
Noch 1843 beschrieb Heinrich Heine in seinem Band „Deutschland.
Ein Wintermärchen“ seinen Besuch in Hagen folgendermaßen: „Dicht hinter Hagen ward es Nacht / Und ich fühlte in den Gedärmen / Ein seltsames Frösteln.“
Am 15. März 1837 genehmigte die Regierung in Arnsberg die erste Straßenordnung für Hagen, die in 73 Paragraphen das Verhalten in der Stadt und den Verkehr auf den Straßen sowie den Straßenunterhalt regeln sollte.
Aber noch bis 1877, als die Industrialisierung bereits in vollem Gang war, gab es in der Stadt lediglich eine einzige weitere in größerem Umfang gepflasterte Straße, nämlich die schmale und kurze Kampstraße – alle weiteren Straßen besaßen (wenn überhaupt) eine Schotterdecke oder aber eine lockere Abdeckung mit Feldsteinen.
Besonders im historischen Stadtkern um die (später so genannte) Johanniskirche beherrschte weiterhin Fachwerk das in bürgerlichen Kreisen zunehmend als ‚romantisch’ und ‚idyllisch‘ empfundene historische Erscheinungsbild, das sich hier erst nach 1900 grundlegend ändern sollte.
Die im Raum Hagen ansässige Industrie erwies sich seit dem 18. Jahrhundert als innovativ und expandierte vor allem seit Mitte des 19. Jahrhundert in einem Tempo und mit einer Intensität, die etwas an den sich zeitgleich in Nordamerika abspielenden „Goldrausch“ erinnert.
Der Ausbau des Straßennetzes und die hygienische Vorsorge in der Stadt hielten jedoch nicht in dem Maße Schritt, wie die Bevölkerungszahl und der benötigte Wohnraum als Folge der Industrialisierung anstiegen.
Die Einrichtung einer zentralen Trinkwasserversorgung durch den Bau eines Wasser-Hochreservoirs und die Verlegung des grundlegenden Rohrnetzes erfolgte in Hagen 1885/1886.
Mit der Schaffung einer großflächigen Kanalisation begann man in Hagen schließlich im Jahre 1903.
Dennoch kam es in Hagen immer wieder zu Epidemien, wie 1955 der Ausbruch von Typhus infolge verunreinigter Molkereiprodukten; zahlreiche Menschen fanden den Tod oder erkrankten schwer.
Ein Beitrag der Hagener Stadtgeschichte vom 17.März 2020